Interview mit Charlotte Lichtblau in New York vom 30. Jänner 2000 bis 4. Februar 2000
Ursprung & Transformation
Im Grunde geht es um die Liebe und den Verlust.
Warum malen?
AL: Ich schlage vor, dass du zuerst einmal erzählst, was für dich zentral ist.
Charlotte Lichtblau: Ich will auf gar keinen Fall in Worten fassen, was in dem Bildwerk enthalten ist, denn wenn ich das könnte, müsste ich nicht malen. Das lässt sich nicht in Worte umsetzen, denn man entstellt es sofort, man macht sofort eine Karikatur daraus oder Propaganda. Ich kann nur sagen, warum sie entstanden sind, und dass es mir ein unbedingtes Bedürfnis war, das nicht zu verlieren, was ich gesehen und erkannt habe. Ich sehe mein Leben so, dass es für mich die Notwendigkeit war, diese Kunst zu machen, aus Not und aus diesem Grund, aus dem Ursprung zu transformieren. Um konkret über die Malerei zu sprechen, kann ich vielleicht sagen, dass wesentlich war, dass mir mein Vater in meiner Kindheit ein Herbarium gekauft hat, weil ich sehr gerne Blumen gesammelt habe. Als ich sah, was aus den Blumen wurde, wenn sie getrocknet dalagen, war ich sehr enttäuscht. Deswegen fing ich an, Blumen zu zeichnen, ganz realistisch. Das war eigentlich der Anfang, wo ich mir sagte, das muss frisch bleiben. Da hat die Transformation begonnen.
AL: Was meinst du mit dem Begriff Transformation?
Charlotte Lichtblau: Dass eine realistisch dargestellte, auf einer flachen Fläche mit Farbe gemalte Blume bereits eine Interpretation ist. Auch wenn es ganz genau gemacht ist, also eine botanische Zeichnung ist, erkennst du den Stil der Zeit, den Stil einer Persönlichkeit. Es ist ähnlich wie bei einer Fotografie, man weiß bei einer Fotografie, wer sie gemacht hat und vor allem wann, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Stilart sie gemacht wurde, obwohl der Fotograf wahrscheinlich nie daran gedacht hat. Die Transformation passiert.
Das Format von Ursprung und Transformation gilt für die Struktur eines Lebens, einer Person, einer Identität und eines Werks. Man kann weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Die Motivation dafür ist, glaube ich, wenn man es ganz einfach sagt, die Liebe. Ohne die Liebe kann die Transformation nicht ausgelöst werden. Ohne sie kann diese Not und diese wirklich schwere Arbeit nicht zustande kommen. Die Liebe kann auch zu Hass werden, aber im Grunde geht es um die Liebe und den Verlust und um das Begreifen, Verstehen, um das Erhalten. Dazu ist vielleicht noch zu sagen, dass ich mich total identifiziert habe mit der älteren Generation, d.h. mit meinen Eltern, mit ihrem Verlust und vor allem mit den Großeltern und da vor allem mit meiner Großmutter, die ich überaus geliebt habe. Aber das habe ich alles nicht gewusst, das weiß ich heute, wo ich alt bin und zurück schaue.
AL: Du sagst: die Form transformieren. Was ist für dich Form?
Charlotte Lichtblau: Die Frage kann ich unmöglich beantworten. Es ist vor allem, obwohl man heute nicht mehr daran glaubt, in einem Bildwerk die Einheit, die Gesamtform der Gestalt. Sodass das Bild eins wird, wie man auf Deutsch sagt: aus einem Holz geschnitzt. Man kann nicht, obwohl man das tut, Stile verbinden, wie z.B. Surrealismus mit Impressionismus. Es muss einen geschlossenen Gedanken oder eine Grundform haben. Das ergibt dann eine gewisse Analogie zur Wahrheit. Die Wahrheit erkennt man durch die Einheit. Also, wenn man etwas anschaut, und man erkennt auf einen Blick: Ja. Aber nicht einmal Plato hat wirklich definieren können, was Form ist. Doch man weiß, was Unform ist. Kunst ist, wenn Form Gestalt annimmt. Der Inhalt wird transformiert, d.h. das Erzählerische wird verwoben und bekommt eine geistige Form, obwohl es in der Kunst natürlich sehr materiell zugeht.
AL: Verstehe ich es richtig, dass sozusagen in einem Arbeitsprozess die Form stärker wird als die ursprüngliche narrative Struktur?
Charlotte Lichtblau: Ja. Wenn ich arbeite, dann ist es mir wurscht, ob an etwas Religiösem oder an einer Ausseer Landschaft oder einem Stilleben. Dann vergesse ich, was es ist, um es zu malen. Es wird etwas vollkommen anderes. Und das ist auch das aufregende und das erkennende Element in der Malerei, dass ich gerade durch diesen Prozess erkenne, was ich vorher nicht gewusst habe. Mit anderen Worten: Ich fange mit einem Thema an, arbeite daran, und es wird mir etwas zurückgegeben, von dem ich keine Ahnung hatte und zwar durch das Entstehen der Form. Und das ist eigentlich die Transformation. Und nichtsdestoweniger geht dann, wenn es gelingt, vom Narrativen nichts verloren, sondern im Gegenteil, es verdichtet sich, es wird wirklich zur Form.
AL: Stichwort: Expressionismus. Du bezeichnest dich ja als Expressionistin.
Charlotte Lichtblau : Nicht gerne. Aber man hat mich so genannt, und ich glaube, der Expressionismus ist uralt, ist nicht in der Neuzeit entstanden. Ich berufe mich auf die ganz frühe byzantinische Malerei in der z.B. die Hand von der Gottesmutter, die das Kind hält, dreimal so groß ist wie die andere Hand. Man hat nicht anatomisch falsch gemalt, sondern man wollte so die Bedeutung des Inhalts visuell gestalten, mit Farben sowohl wie in Form. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass Leute wie Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, die frühen Expressionisten aus Russland, aus der Tradition der Ikonographie kamen. Ich hab sehr viel Beziehung zum frühen Expressionismus des 20. Jahrhunderts, das war eine phantastische Befreiung. Oskar Kokoschka ist einer meiner ganz Großen. Ich lieb den Kokoschka, weil Kokoschka wirklich geglaubt hat – und ich glaub das heute noch -, dass, wenn jemand sieht, dass er die Welt verändern und verbessern kann.
Wenn es innen gemütlich ist, ist es außen ungemütlich.
Das Aussee der Kindheit
AL: Warum hast du dich in deinen hier in Amerika entstandenen Arbeiten so intensiv mit Aussee als Topos befasst? Du zeigst z.B. Feste, die du in deiner Kindheit erlebt hast.
Charlotte Lichtblau: Es ging um die Rekonstruktion. Indem ich es rekonstruiert habe, habe ich es auch umgesetzt, also da kommt wieder die Transformation herein. Das soll man nicht zu sehr in Worte fassen, da kommt der totale Horror der Geschichte herein. Das sind etwa sehr festlich beleuchtete Boote und alle möglichen Gestalten. Das ist etwas Beängstigendes, so wie der See auch beängstigend ist.
AL: Sagst du mir damit, die Erfahrung in der Nazizeit hat den Blick auf diese Vergangenheit geprägt?
Charlotte Lichtblau: Er ist schon vorher geprägt worden. Aber er ist transformiert, ganz bestimmt, durch alle Menschen, die nicht mehr da sind, die wir verloren haben. Ich habe schon als Kind in der ganzen Harmonie das Unheimliche gespürt. Wenn es innen gemütlich ist, ist es außen ungemütlich. Das liegt schon im Wort Gemütlichkeit, es liegt in der Sprache und das, was ich als Kind beobachtet habe, in Altaussee, hat mich nie glücklich gemacht, sosehr ich es geliebt habe. Es hat weh getan.
AL: Weil es eine Bedrohung war, oder weil du nicht dazu gehört hast?
Charlotte Lichtblau: Ich wollte nicht dazu gehören. Das kann ich nicht sagen, denn ich kann mich nicht zurück in meine Kindheit versetzen. Ich weiß nur, dass ich etwas gesehen habe, das ungereimt war. Das kann ich unmöglich in Worten interpretieren. Das Ursprüngliche, was dort vielleicht einmal war, war schon lange nicht mehr vorhanden, nicht einmal in meiner Kindheit. Und was dort gespielt wurde, war bereits vielschichtig. Es war sehr sexuell, es war sehr erotisch, es war sehr falsch gleichzeitig. Es hat sich nicht gut gemischt. Es hat mir ästhetisch missfallen. Ich hatte das Gefühl, es stimmt nicht.
AL: Ich kann es mir so vorstellen: Es gab die traditionelle Ausseer Kultur, und jetzt kamen die Großstädter. Und die ursprüngliche Kultur wurde immer stärker inszeniert, das kann man ja beobachten. Das Eigene wurde sozusagen fremd. Und auch die Fremden wurden nicht zu eigenen.
Charlotte Lichtblau: So war es. Es hat mir sehr weh getan, dass die Hausbesitzer irgendwo in ein hinteres Quartier übersiedelt sind und uns das vordere schöne Haus vermietet haben für bares Geld. Als Kind hielt ich mich so viel wie möglich in den hinteren Räumen auf, denn es hat mir wehgetan. Aber gleichzeitig liebte ich das alles sehr. Ich verstand nicht, warum man nach Wien zurück musste, oder ich hab es nicht akzeptieren wollen. Lange vor Hitler war ich jedes Mal, wenn wir dort weggefahren sind, völlig verzweifelt, weil ich in Aussee bleiben wollte.
AL: Wenn es als Kind schon so schmerzhaft war, ist es jetzt, da du in New York lebst, nicht noch viel schmerzhafter, wenn du von Aussee abfährst?
Charlotte Lichtblau: Ach Gott, die Abreise ist fürchterlich. Wenn wir über den Pötschen fahren, ersuche ich den Fahrer, einen Rock & Roll aufzudrehen und mich nicht anzusehen. Es ist schrecklich, furchtbar. Aber da kann man nichts machen. Dabei komm ich öfter nach Aussee als nach Brooklyn!
AL: Seid ihr in deiner Kindheit jeden Sommer nach Altaussee gefahren?
Charlotte Lichtblau: Nicht nur jeden Sommer, sondern auch zu Weihnachten und zu Ostern. Nur einmal in meiner ganzen Kindheit konnten wir nicht hinfahren, da fuhren wir nach Jugoslawien, weil meine Schwester irgend etwas auf der Lunge hatte, da mussten wir ans Meer für drei Wochen, und ich war verzweifelt, weil ich in Aussee sein wollte.
AL: Seid ihr mit dem Zug hingefahren?
Charlotte Lichtblau: Ja. Es war eine Weltreise, wahnsinnig. Es ist immer noch genau dieselbe fade Strecke bis nach Linz, bis man in die Berge hineinkommt. Wir sind mit riesigen Körben gefahren, mit Bettwäsche usw., einen ganzen Haushalt hat man dorthin gebracht, mit zwei Dienstmädchen. Zwei Familien zusammen, da waren die Dienstmädchen und die Haushälterin und alles drum und dran mit dabei. Ich muss dazu sagen, die Männer sind natürlich nicht alle drei Monate dort geblieben, die haben ja arbeiten müssen, die sind nach Wien gefahren. Der Großvater oder mein Vater, die sind nur am Wochenende oder dann auf Urlaub gekommen, ein paar Wochen. Aber die blieben nicht drei Monate dort, so wie wir.
AL: Wer war die zweite Familie?
Charlotte Lichtblau: Meine Großeltern. Dann waren meine Eltern und wir, also meine Schwester und ich. Es wurde manchmal noch ein Kind mitgenommen, was weiß ich, das Kind von der Wäscherin oder so, zur Gesellschaft. Und es war auch gut für die Wäscherin, die kein Geld hatte, das Kind in die Sommerfrische zu schicken. Es war eine Großfamilie, wie man es sich heute kaum mehr träumen kann. Bei Tisch saßen dann manchmal 20 Personen.
AL: Wo habt ihr genau gewohnt in Aussee, war das immer im selben Haus?
Charlotte Lichtblau: In verschiedenen Häusern. Anfangs, wie es meinen Eltern noch nicht gut genug gegangen ist, haben wir mit den Großeltern in einem Haus gewohnt. Und später, wie es meinem Vater dann etwas besser gegangen ist, haben wir ein eigenes Haus gemietet.
AL: Gibt es da eine Familie, die für dich besonders wichtig war in der Zeit?
Charlotte Lichtblau Z.B. die Familie Angerer. Sie ist gestorben, er ist ganz jung an einer Blutvergiftung gestorben, und das Kind ist von einer Lawine erschlagen worden, die kleine Annerl. Das war ein ganz einfaches Haus mit zwei Stöcken und zwei Veranden, eine oben, eine unten, zwei Küchen, die Bauernküche und die Küche, die an uns vermietet war, und oben die Schlafzimmer. Das Klo hat meine Großmutter einbauen lassen. Wir Kinder sind sehr viel bei den Hausleuten gewesen und haben viel mit ihnen geredet. Es hatte auch damit zu tun, dass sich die Dienstmädchen sehr gut mit den Ausseern verstanden haben. Zwei unserer Dienstmädchen leben in Aussee. Eine hat dort geheiratet, die Laura, und die andere ist meine große Liebe, die Mizzi, eine Urwienerin, eine fantastische Frau.
AL: Du hast gesagt, ihr ward die dritte Generation in Altaussee, d.h. deine Großmutter, Lili Ehrmann, hat damit begonnen?
Charlotte Lichtblau: Ich glaub, sogar bereits ihre Mutter. Es war ungefähr 1890, da hat es begonnen. Meine Großmutter Lili war sehr unkonventionell. Sie war keine Grande Dame. Sie war überhaupt keine Dame. Sie war eine Type, sehr skurril. Aber sie war sehr eingebunden in die Ausseer Landschaft und in die Menschen, die dort lebten ‑ nicht nur bei den Sommergästen, sondern auch bei der lokalen Bevölkerung. Ich hab sie wirklich geliebt. Und sie hat Altaussee geliebt, und das hat sich sicher auf mich übertragen. In Aussee war sie Zuhause. Und sie war auch ganz ungeniert. Ich meine, sie ist in der Unterhose auf der Straße gestanden, (lacht) was ihr gerade eingefallen ist. Sie hat keine Formen von Etikette und so gehalten. Man hat bei ihr nie gewusst, wie viele Leute zu Tisch sein werden oder ob sie auf einmal aufsteht und weggeht. Sie war halt temperamentvoll, aber sicher sehr gescheit, und sie hat eine sehr enge Beziehung zu mir gehabt und zu meiner Tochter Claudia.
Eine Geschichte hab ich noch miterlebt. Meine Großmutter hat effektiv ein Kind von einem Bauern, das Annerl, entführt. Sie hatte Kinderlähmung und war vollkommen verkrüppelt, und meine Großmutter ließ sie in Wien operieren. Es war ein Skandal, der Bauer hat sich wahnsinnig aufgeregt, aber letzten Endes ist das sehr gut ausgegangen, denn die Annerl hat dann ein bisschen gehen können, und hat später am Sommersberger See eine Schwimmschule geleitet.
AL: Abgesehen von der Natur, die ja wirklich wunderschön ist: Glaubst du, dass die Sehnsucht nach Bodenständigkeit bei den Wienern eine Rolle spielte, die diese damals anstrengende Reise auf sich nahmen?
Charlotte Lichtblau: Ja, ganz sicher, ganz bestimmt. Das ist sehr subjektiv, so wie ich mir es erkläre. Im Kreis meiner Eltern und Großeltern waren hauptsächlich assimilierte Juden, auch ein paar Nichtjuden. Ich glaube, dass die Bewunderung der Natur und des einfachen Bauernlebens, die Romantik, naturbezogen zu sein usw. quasi die Religion ersetzt hat.
Ich habe Gespenster gesehen, wirkliche Gespenster.
Die Rückkehr
AL: Du warst 1937 das letzte Mal vor eurer Flucht in Altaussee. Du hast dich in Amerika in deiner Arbeit sehr stark mit Österreich auseinandergesetzt. Und dazu gehören die Ausseer Bilder, die im Zentrum deiner Arbeit stehen. Wie erklärst du dir das?
Charlotte Lichtblau: Ich behaupte, ich hab in Aussee überhaupt das Sehen gelernt. D.h. dass die Formen von diesen Strukturen, von den Bergen, überhaupt meine Formsprache sind. Auch wenn ich nicht Aussee male, dann sind die Formen dieselben. Ich hab die Trisselwand bestimmt 100 Mal gemalt, von der Natur und aus der Phantasie. Das ist ein ganz komplexer Berg. Die Trisselwand ist eine fast kubistische Angelegenheit. Und das ändert sich bei jeder Beleuchtung. Es ist so, dass man Gestalten, Figuren usw. drinnen sieht, der Berg ist sehr figural. Es sind Gesichter drinnen – ich kann es nur so sagen – abgesehen von den Formen. Das ist eine ästhetische Sache für meine Arbeit. Für mich sind die Berge Persönlichkeiten, also Personifikationen. Sie sind Personen. Es ist wie ein Dialog. Ich interessiere mich nicht für das Gebirge im allgemeinen, aber diese Berge, die sprechen mich in einer ganz bestimmten Art an. Jeder von diesen Bergen ist eine Persönlichkeit. Einer ist männlich, einer ist weiblich, einer ist das und jenes. Das kommt auch noch von dieser Sichtweise, die ich als Kind hatte, wo alles zum Leben kommt, zur Figur wird.
AL: Du hast schon in Amerika Bilder über Aussee gemalt, als du noch nicht zurückfahren konntest. Was war dir daran wichtig?
Charlotte Lichtblau: Ich glaub, das ist alles sehr primitiv, sowie die Tiere ihren Ort oder Raum markieren. Ich will das nicht dramatisieren. Die Leute reden immer zu viel darüber. Es ist wirklich sehr primitiv. Und: Ich wollte es ganz verstehen.
AL: Hat sich dein Verständnis dann geändert, als du zurückgekommen bist?
Charlotte Lichtblau: Nein, der Ort hat sich geändert. Das ist ja wahnsinnig interessant, denn als Kind glaubt man, das, was man erlebt, sei für immer und ewig. Aber die Welt ändert sich. Altaussee war für mich ein heiliger Ort, jetzt ist er ein säkularer Ort für mich geworden. Es stimmt nicht ganz, denn ich bin immer noch wahnsinnig aufgeregt, wenn ich hinkomme.
Es geht, vom Künstlerischen her gesehen, um das Vermeiden des Verallgemeinerns und das, was mir dort so wichtig ist, soweit es noch da ist, ist das Spezifische. Man kann alles verallgemeinern, und die Kunst liegt irgendwo dazwischen. Es muss universal sein, aber es muss auch spezifisch sein, und das ist ein ganz, ganz bestimmter konkreter Platz, den gibt es wirklich. So ist es. Das ist das Pech, dass ich als Kind in Aussee war, und deswegen hab ich den Rest der Welt nicht wirklich verarbeiten können.
AL: Du hast zuvor erwähnt, dass du die Trisselwand wieder und wieder gemalt hast. Kannst du mir ein Beispiel für die Faszination geben?
Charlotte Lichtblau: Da ist zum Beispiel ein Bild namens „Auferstehung“. Die Trisselwand hat ein Loch, und in diesem Loch, hat man uns gesagt, da wohnt der Teufel. Und er wohnt auch dort. Und er kommt auch heraus, und man kann dieses Loch genau sehen. In manchen Bildern hab ich es gemalt. Es war eine tiefe Höhle. Und unter dieser Höhle hat man in der Sonnwendnacht unter Lebensgefahr Feuer gemacht.
AL: Gab es für dich die Gespenster und den Teufel damals wirklich, waren sie für dich als Kind real?
Charlotte Lichtblau: Ich wehr mich gegen das Wort real, denn für mich ist alles real. Die Ausseer Landschaft ist durch Legenden, die Mythen und den Aberglauben und durch die Vermischung von Heidentum und die Heiligenverehrung geprägt. Das ist nichts anderes als die figurative und personifizierende Verwandlung. In vieler Hinsicht ist das so wie Voodoo, vermenschlicht bis ins letzte.
AL: In deiner Arbeit geht es sehr oft um Bräuche und Traditionen und zugleich um den Verlust. Nun ist aber in deinem Leben dieses Ereignis der Nazi-Zeit …
Charlotte Lichtblau: Entschuldige, wenn ich Dich unterbreche, ich glaube, dass es schon vorher begonnen hatte, dass es immer Opfer gegeben hat. Die Geschichte des Opfers geht zurück zum Anbeginn der Menschheit. Besonders in den heidnischen Religionen gibt es immer Opfer. Hermann Broch, das hab ich erst viel später gelesen, beschäftigt sich in seinem Bergroman auch mit dieser Thematik. Es hat nicht die Nazis gebraucht, um auf die Opferthematik zu stoßen, obwohl die Nazis haben das wirklich vollendet. Aber die Ideen vom blutigen oder unblutigen Opfer, die hat es immer gegeben. Ich hab übrigens viel Respekt vor Hermann Nitsch. Er ist mir sehr verwandt, nur ist er etwas extremer als ich es bin. Der zeigt, was in der Religion ist, aber nicht ohne Referenz, ohne Andacht. Er beschäftigt sich mit einer Thematik, die mir sehr vertraut ist. Er macht es dramatischer, und unappetitlicher, muss ich sagen.
AL: Das Bedrohliche für dich bei diesen Bräuchen war, dass es dabei immer auch um Opfer ging?
Charlotte Lichtblau: Ja, sicher. Es ging immer um den Schwächeren, es ging immer darum, dass jemand nicht mitkommt, man musste nicht gleich in die Gaskammer gehen. Die Brutalität fängt viel früher an. Natürlich sieht man das nachher mit einer anderen Perspektive, das ist ganz klar.
Ein kleines Bruchstück meiner Biographie: Als der Hans [John Lichtblau] in der U.S.-Besatzungsarmee in Deutschland war, bin ich im 46er Jahr zu ihm in das zerbombte Deutschland gekommen. Das erste, was wir dort gemacht haben: wir sind in den Wald gegangen. Ich habe mir den Revolver vom Hans angeschnallt, weil ich mich so gefürchtet habe. Und ich hab in dieser Zeit in Deutschland, im Fichtelgebirge, Gespenster gesehen, wirkliche Gespenster. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch und musste im Spital behandelt werden. Es war nur aus Spinnerei, aber nicht ohne Grund. Nachdem mir die Ärzte dann gesagt haben, es ist klinisch alles in Ordnung, habe ich mich zusammen genommen und bin wieder nach Hause gegangen. Gleichzeitig habe ich die Not gesehen, die fürchterliche Not. Aber es hat nicht damit begonnen. Man spürt es, wenn Kinder aufeinander losgehen.
AL: Was meinst du, wenn du von deutschem Wald sprichst?
Charlotte Lichtblau: Der deutsche Wald ist selbstverständlich in der Romantik ein Begriff und in der Literatur ein Begriff. Ich weiß nicht, ob Du amerikanische Wälder kennst, aber das ist mehr oder weniger Urwald. Man kann nicht durchgehen. In einem Nadelwald zu gehen, ist ein Kindheitserlebnis von mir. Da kommen die Märchen vor, da kommen sämtliche Gespenster vor, das ist voll Vergangenheit, kulturell sowohl wie visuell. Die Bäume stehen in Formationen, wie die Soldaten. Nach dem Krieg war es noch viel stärker der Fall, denn man hat das Unterholz gesammelt, um Feuer zu machen. In der Emigration sehnten sich alle nach einem deutschen Wald, nein nicht deutschen, sondern europäischen Wald. Es gibt ihn in der österreichischen sowie in der deutschen Landschaft, sogar wenn man mit dem Flugzeug ankommt, sieht man geometrische Strukturen und hier und da eine kleine Baumgruppe, und da ist alles voll zivilisiert. Und wie ich dann dorthin gekommen bin und den Wald gesehen habe, zusammen mit den zerbombten Städten und den fürchterlich armen Menschen, war es natürlich sehr unheimlich. Ich habe mich auch sehr gefürchtet. Die waren ja alle noch dort. Ich hab mich wirklich gefürchtet. Wie ich angekommen bin, haben wir im Haus von irgend einem großen Nazi-Bonzen gewohnt, das von der Armee beschlagnahmt worden war. Ich hab mir gedacht, warum vergiftet uns der Koch nicht, wieso ist der so freundlich und so nett.
Ich hoffe, etwas zurückzugeben.
Die Ausstellung
AL: Du bist später immer wieder nach Altaussee gefahren. Ist Aussee für dich Heimat?
Charlotte Lichtblau: Das ist ein schwieriges Wort geworden, Heimat. Ja, eigentlich, wenn man es ganz primitiv nimmt, ja.
AL: Träumst du oft davon?
Charlotte Lichtblau: Wenn ich einmal in der Woche nicht von Aussee träume, dann stimmt etwas nicht mit mir. Aber jetzt schon weniger. Ich glaube, das ändert sich mit dem Alter, dann ist nichts mehr Heimat, nicht einmal der eigene Körper. Das ist einfach anders, wenigstens in meinem Leben.
AL: Für mich ist es ein sehr starkes Bild, deine Aussage, du wolltest den Ort markieren. Ich denke, das machen wir mit der Geschichte auch. Ich wollte fragen, ob dieses Markieren sich nicht verflüchtigt hat und durch etwas anderes überlagert worden ist.
Charlotte Lichtblau: Es ist mir jetzt nicht mehr möglich, ich brauch das jetzt nicht mehr markieren, denn ich schau zurück auf meine Arbeit. Ich muss lachen über die Quantität von Aussee-Bildern. Aber ich fahr hin, weil es mich glücklich macht. Mein Lager ist voll, obwohl die Bilder von Aussee sehr gefragt sind. Gerade letzte Woche hab ich wieder eine Trisselwand verkauft. Es ist schon etwas, worauf die Leute ansprechen.
AL: Was erwartest du von der Ausstellung in Altaussee?
Charlotte Lichtblau: Ich hoffe, etwas zurückzugeben und hoffe, den jetzigen Menschen etwas damit darüber zu sagen, was an diesem Ort eigentlich vorhanden ist.