Der Mut zu Sehen
Einsicht und Präsenz in der Malerei von Charlotte Lichtblau
Bruce Payne
1. Das Stadt-Triptychon
Einige Tage nach dem Terroranschlag vom 11. September auf das World Trade Center in New York hängte Charlotte Lichtblau in ihrer Wohnung in Manhattan ein Bild mit brennenden Wolkenkratzern an die Wand. „Das Ende der ‚Brownstone’-Ära“ wurde vor mehr als 30 Jahren als Teil eines Stadt-Triptychon gemalt. Das Bild ist wie eine dunkle und gewalttätige Vision der Zerstörung, die New York terrorisiert hat.
Ich habe dieses Bild samt den beiden dazugehörigen Bildern gemieden und die Ereignisse vom 11. September 2001 haben es mir nicht leichter gemacht, sie zu ertragen. Charlotte Lichtblaus Farben sind oftmals von dramatischem Dunkel. In ihren Bildern – Stillleben, Portraits, Berglandschaften ‑ mochte ich am liebsten das intensive Grün, die erdigen Braun- und Rottöne, das gelegentliche tiefe, dunkle Blau, die den Betrachter in eine intensive Auseinandersetzung mit den Bildern ziehen. Die Farben auf diesen Stadtbildern, verstärkt durch die Gewaltsamkeit ihrer Bildsprache, scheinen den Betrachter absichtlich wegzustoßen.
Die Gelegenheit über Charlotte Lichtblau zu schreiben, brachte mich dazu, genauer über diese Bilder nachzudenken und über meine eigene, jahrelange Aversion ihnen gegenüber zu reflektieren. Zu meiner Überraschung half dies meine Beziehung zum Werk von Charlotte Lichtblau zu klären, das betrifft Malerei, Zeichnungen und Drucke, die ich seit nunmehr 34 Jahren kenne.
Das Stadt-Triptychon steht für einen speziell intensiven Moment in der dialektischen Auseinandersetzung von Charlotte Lichtblau mit der Welt. Die Gefühle, das Wachrufen von Erinnerung und die Momente von großartiger Schönheit, die in vielen anderen Arbeiten so präsent sind, fehlen hier völlig. Die zwingende Kraft dieser Absenz ermöglicht es zu erkennen, was im Kontext mit dem Kontinuum der Arbeit der Künstlerin ‑ psychologisch, persönlich und intellektuell ‑ eigentlich auf dem Spiel steht.
Mit diesen schwierigen und extremen Bildern zu beginnen, erzwingt mir liebgewordene, signifikante Gedanken zur Malerei zunächst hintanzustellen. Über diese aufreizende Malerei zu schreiben, erfordert eine kurze Charakterisierung des gesamten Werks, dem die Stadtbilder gegenüberstehen.
Charlotte Lichtblau ist vor allem für jene Arbeiten bekannt, in denen sie die österreichischen Alpen als Erinnerung und Topographie und noch tiefsinniger gefasst als Herzenslandschaft darstellt. Sie gehen auf die späten 40er Jahre zurück und stehen, so glaube ich, zutiefst mit den Kindheitserfahrungen des Zeichnens in den Bergen um Altaussee in Verbindung. Dort hatte die Familie vor dem „Anschluss“ ihre Sommer verbracht, später flüchtete sie nach Jugoslawien, dann nach England und Amerika.
Ein großer Teil der Malereien und Zeichnungen von Charlotte Lichtblau befasst sich mit der Kraft des Eros, der Gegenwärtigkeit des Todes und der erfahrenen Zuversicht, die aus biblischen Geschichten oder anderen Mythologien bezogen werden bzw. aus Geschichten, die zu den denkwürdigsten und kraftvollsten unserer Kultur gehören. Unter jenen Arbeiten, die Erzählungen der Mythologie und des Glaubens erforschen, gehören die erfolgreichsten Bilder, etwa die besten ihrer Landschaftsbilder. Sie strahlen von einer Intensität, die zurecht als gefühlvoll bzw. von Seele erfüllt bezeichnet werden kann.
Die mit einer tiefgehenden Intellektualität und dem spirituellen Erkunden verbundene psychologische Intensität ist auch in den Stillleben der 1950er und 60er Jahre und in den Portraits von Freunden und Familienmitgliedern, die während der gesamten Schaffensperiode entstanden sind, offenbar.
„Seele“ gilt in der modernen akademischen Gelehrtenwelt als ein fraglwürdiger Begriff, während in anderen Milieus die Idee einer Seele weniger problembehaftet ist. Obwohl die meisten Amerikaner der einen oder anderen Glaubensgemeinschaft angehören, dürften sich nur wenige den Kopf darüber zerbrechen, dass diese Konzeption, nämlich die Seelenvorstellung, viele Fragen über unsere Art des Denkens und Lebens aufwerfen könnte. Setzen wir uns jedoch ernsthaft mit der Malerei von Charlotte Lichtblau auseinander, dann wird die Verwendung des Wortes „Seele“, am besten im Sinne der Übersetzung von Freud aus dem Griechischen psyche, unerlässlich.
Was ich damit meine, hat zum Teil mit Fragen psychologischer Komplexität und Einsicht zu tun. Emotionale Wirklichkeit, nicht zuletzt sexuelles Sehnen und ein Sinn für Sterblichkeit, sind in die Gesichter und Körper ihrer Malereien eingeschrieben, aber implizit sogar auf den Tonkrügen und Draperien der Stilleben oder in den kaum erfassten Energien der Berge. Wilde Narzissenblüten benetzen grüne Berghänge mit ihrem Weiß und Blumensträuße in Vasen lassen die entbehrlichste und vergänglichste Lieblichkeit erahnen. Begräbnisriten und die Darstellung der trauernden alpinen Dorfbevölkerung werden durch die Darstellung biblischer Gewalt vervollständigt. Charlotte Lichtblau hat mehrere Versionen von Christus und dem letzten Abendmahl gemalt. Während der Pessachfeier versucht er seine geliebten Freunde auf den nahe bevorstehenden Tod vorzubereiten.
Die emotionale Wirkungskraft dieser Themen wird ständig erhöht durch den spürbaren Kampf, sie zu erschaffen. Für die New Yorker Schule der 1950er Jahre wurde der Begriff „Aktionsmalerei“ ersonnen. Dem Begriff entsprechend ist Charlotte Lichtblau, wie ihre offensichtlichen Vorgänger des deutschen Expressionismus, insofern eine Aktionsmalerin, als sie die Betrachter in den von Durcharbeiten geprägten Entstehungsprozess ihrer Malereien Einblick gewährt.
In ihrem Fall geht es bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um die Darstellung von Gefühlen, sondern darum, ihnen eine konkrete Form zu geben und sie in gewisser Weise zu verstehen. Die Bilder sind unausweichlich mit den fundamentalen Fragen menschlicher Existenz verbunden. Wer sind wir? Woher und wohin? Ist das Leben so süß und der Tod so endgültig, dass die tagtägliche strahlende Freude die Bürde von Trauer und Verlust in sich trägt?
Charlotte Lichtblaus Arbeit ist ein Streben nach Bedeutung, nach dem Verstehen, und sie wollte die tiefgehenden emotionalen Elemente ihres Lebens darstellen. Es ist eine Suche, die Welt unverfälscht zu sehen und die beharrlichen Geheimnisse von Tod und Verlust offen zu betrachten. Ihr widerstrebte es, die Vorstellung aufzugeben, dass unser tiefstes inneres Selbst eine geheime Verbindung zur Natur und den Mysterien ihrer Ordnung hat.
Als ich in den späten 1960ern erstmals die Arbeiten von Charlotte Lichtblau sah, war ich mir der Relevanz dieser Fragen nicht bewusst. Obwohl sie bereit war, über viele Aspekte ihrer Arbeit zu sprechen, hielt sie sich bei Details zurück bzw. schwieg über die tiefere Bedeutung. Dennoch waren die für sie wichtigsten Werte erkennbar. Aus den Gesprächen und ihren Werken konnte der profunde Humanismus herausgelesen werden, wie auch ihre theologische Wissbegierde und ihre Hingabe. Es war auch offenkundig, dass Schönheit, wenn auch schwer erkämpft bzw. flüchtig, und das Vergängliche eine beständige Kraft in ihrer Malerei und ein Quell für ihre Lebensfreude waren.
Die wachsende Kenntnis über die Arbeit und die Ideen von Charlotte Lichtblau hatten mich aber nicht auf die Stadtportraits vorbereitet, die 1968 plötzlich auftauchten. Ihnen fehlte alles, was für mich Schönheit verkörperte. Sie schienen inhuman. Nichts von dem, was mich am meisten beschäftigte, war darin zu sehen. Sie boten zwar kraftvolle Strukturen an, eindrucksvolle Kompositionen, aber nichts von Liebe, Trost, Hoffnung oder Aussöhnung.
„Das Ende der ‚Brownstone’-Ära“ zeigt eine Welt ohne Schutz gegenüber dem Feuer, zerbrechliche Menschen, die machtlos der Grausamkeit ausbrechender Gewalt ausgeliefert sind. Der grobe blaugrüne Bau auf der rechten Seite und die schwarzen Fenster des abfallend rechtwinkeligen Gebäudes leuchten oben gelb-orange, angestrahlt vom Feuer der brennenden Gebäude links davon. Der schlanke schwarze Turm in der Mitte windet sich zu den purpurrot orange gesäumten Wolken, während von hinten Teile einer Steinkirche auftauchen, die einen großen Hundekopf bilden. Unten in der Mitte ist ein malvenfarbig weißlicher Gehsteig in Gestalt eines Fisches, sein Auge ist ein Straßenschacht. Zur Linken werden in fahlem grünen, offenen Gräbern oder Särgen braun-grüne Körper gezeigt.
Am Turm stehen drei weißgesichtete Frauen in dunkel vermummten Roben mit einem Kind. Zur Rechten steht Charon mit ein Ruder in der Hand in einem schmalen Boot. Vor ihm hockt eine in sich versunkene Figur. Ein Fluss, vermutlich der Styx, fließt uns unten entgegen. Aus gebrochenen Rohren ergießt er sich blau ins schwarze Wasser.
Charon taucht immer wieder in Charlotte Lichtblaus Arbeiten auf. Sein alpines Gewand und sein Boot verbinden ihn mit den halb versunkenen Erinnerungen von den mit Geweihen versehenen Opfern (und wahrscheinlich mit den Kindheitserinnerungen von Charlotte Lichtblau an die Gebräuche am Altausseer See). Aber sogar in diesen düsteren Seebildern spielt diese komplexe und unheilvolle Figur eine elementare Rolle. Viel kleiner, hier aus dem Hintergrund von einem Feuerschein erhellt, auf dem schwarzen Wasser treibend, glänzende orange Reflektionen nach sich ziehend, scheint Charon sich zu einer einzigartigen und möglicherweise letzten Reise aufgemacht zu haben.
In der griechischen Mythologie und den griechischen Dramen, als auch in den alten germanischen Riten und Geschichten, stehen Leben und Tod immer in enger Verbindung zueinander. Der König oder das Opfer sterben, aber in den Satyrspielen und bei den Festen wird danach die Gemeinschaft wieder hergestellt. Charon will natürlich immer seine Arbeit verrichten. Ironischerweise taucht er öfter als in den Tragödien bissig humorvoll in Komödien auf. Tod und Leben werden beide fortbestehen, das ist der menschliche Aspekt. „Das Ende der ‚Brownstone’-Ära“ legt ein schlimmeres Schicksal nahe: das Ende von jeder wiederherstellbaren Gemeinschaft. Einige Verluste werden nicht wieder gutzumachen sein, einige Gemeinschaften werden aussterben. Charon wird möglicherweise arbeitslos.
“Die Pest” agiert mit einem ähnlich schrecklichen Bild: kleine, geschwächte, sterbende Opfer inmitten eines großen Gebäudes, eine Abbruchskugel über all dem bedrohlich angebracht. Der dominante Aspekt des Bildes, wie er sich zumindest auf visueller Ebene darstellt, ist eine furchteinflößende allzu menschliche Gestaltung: Der winkelförmige, ungleiche Kreis aus grau-purpurfarbenen Himmel ist ein gegenwärtiges Mandala, dessen unregelmäßige Zacken die Spitzen der Wolkenkratzer. Inmitten dieser inhumanen Gebäude schauen wir direkt auf zu einer strahlend schönen Form, und sehen, dass im mittleren Wirbel die Sonne steht. Sie scheint zu leblos und zu weit entfernt, um uns Hoffnung zu geben, dass eine der natürlichen Farben zurückkehren könnte.
Der Titel kommt möglicherweise von Albert Camus’ großem Werk, aber die schwer gewonnene und behutsame Hoffnung, die den Roman am Ende belebt, scheint hier völlig zu fehlen. Die kahlen Gebäude – funktional, mechanisch und ambitiös schlank, aber mit unverzierten seitlichen Oberflächen, selbst dann, wenn die Mauern aus Glas sind – bieten keine Unterkunftsmöglichkeit entsprechend der menschlichen Bedürfnisse, noch weniger ein angenehmes Obdach.
Die Malerei rechts davon, „Die Wiedergeburt der Stadt“, bietet auch nicht mehr Hoffnung an. In dem Bild können wir leicht Überreste des alten Glaubens erkennen: gotische Spitztürme, Zwiebeltürme, sogar, und das war selbst im New York des Jahres 1968 erstaunlich, die einfachen Kuppeln von Moscheen des Mittleren Osten. Wenn auch die Sonne, nun blutrot, hier heller ist, meidet die Farbpalette die Farben der Natur. Lebewesen scheinen hier in großen Schwierigkeiten zu sein. Wir sehen einen geisterhaft betenden Mönch und im Zentrum eine große dunkle fötale Figur.
Auf der linken unteren Bildhälfte befinden sich zwei Frauen in biblischem Gewand – Jüdinnen aus dem Altertum oder eher Araberinnen der Gegenwart. Obwohl – wie der beunruhigende Fötus ‑ nur ein kleiner Teil des Bildes, könnten sie Werkzeug der Wiedergeburt sein. Wer weiß schon? Die Bögen dahinter und zur Linken könnten an Krippenszenen der Renaissance erinnern. Und die Umstände der damaligen Geburt waren bekannterweise beschwerlich. Neben den Frauen steht eine bewaffnete Figur, und sie scheint nicht zu deren oder unserem Schutz da zu sein. Aber man wundert sich. Maler der Renaissance erzählten auch die schrecklichste Geschichte im Zusammenhang mit der Geburt von Jesus Christus: über grausame Soldaten, die Unschuldige umbrachten.
Das Eindringlichste an diesem Bild sind sicherlich die scharfen Zähne des nach unten gewandten Fisches und das Skelett des toten Vogels oben rechts. Es erinnert an die gotische Architektur von Portalen, über die sich ein Hals ausstreckt. Wiedergeburt scheint hier völlig unwahrscheinlich zu sein.
Die fürchterliche Abwesenheit der Seele dieses Stadtbildes – das Fehlen von Hoffnung oder ihrer altertümlichen Farben des Frühlingsgrün, das Fehlen von Erbarmen oder sogar Trost angesichts des Terrors ‑ lenkt das Augenmerk auf die Tatsache, dass die meisten Bilder von Charlotte Lichtblau nicht von der Abwesenheit, sondern von der Existenz handeln. Sie befassen sich allesamt mit der Wirklichkeit, der Bedeutung in den Werthaltungen von Personen und Gegenständen. Und obwohl sie den Betrachtern oftmals Hindernisse in den Weg legen, scheinen sie uns eindeutig dazu einzuladen, unseren Weg zu fruchtbaren und sogar überweltlichen Erfahrungen zu beschreiten.
Die Abwesenheiten in den Stadtbildern scheinen somit eine drastische Warnung zu sein. Sie prophezeien eine düstere Zukunft, die – so die hebräischen Propheten ‑ nur dann vermieden werden kann, wenn wir unsere Wege fundamental ändern können. Der Prophet Amos und die zornigen Brüder sahen es in ihrer Zeit so: ohne den Glauben und den daraus resultierenden Werken bzw. ohne die entschiedene Ablehnung der falschen Idole würde Jerusalem fallen müssen.
Vor drei Dekaden, immer noch eine entschlossene Exilantin in einer Stadt, in der sie lebte und die sie mochte, hatte Charlotte Lichtblau Angst vor den Kräften des Inhumanen und der Grausamkeit, die in den Erinnerungen an ihre europäische Kindheit so lebendig waren. Sie könnten wieder Oberhand gewinnen. Das was reich und vielfältig war, könnte uniformiert werden, das was spezifisch und individuell war, könnte von unterdrückender Konformität und phantasielosem Materialismus erdrückt werden. Diese Bilder waren ihr Protest – prophetisch, explosiv und kompromisslos.
2. New York, 1968‑1970
Meine Beschäftigung mit der Kunst von Charlotte Lichtblau begann mit beunruhigend guten Neuigkeiten. Im Frühjahr 1967 hatte ich eine Ausstellung mit Holz- und Steinplastiken von Seymour Gresser organisiert. Es war die Eröffnungsausstellung der kleinen Galerie einer neuen Stundentengemeinschaft am Stillman College in Tuscaloosa, Alabama, einem vormaligen College für schwarze Studenten, an dem ich Staatswissenschaften und politische Theorie unterrichtete. Ich hatte gerade eine freies Jahr von der Graduiertenschule für Politikwissenschaft an der Yale Universität genommen. Anfang März rief mich Gresser an, um mir zu erzählen, er habe soeben einen Torso aus Mangoholz verkauft. Diese in einer Galerie in New Haven ausgestellte Skulptur hatte mich veranlasst gehabt, Gresser in seinem Haus in Maryland zu besuchen. Damit begann eine Freundschaft und für mich eine dauerhafte Vertiefung in seine Arbeiten. Ich verdiente damals ein bescheidenes Gehalt und hatte den Torso eigentlich kaufen wollen.
Die Nachricht von Slys Glück war demnach für mich eine Enttäuschung und ich konnte seine Freude nicht teilen, als er mir die Käuferin nannte. Sie sei, so sagte er, eine großartige deutsche Expressionistin. „Ihr Name ist Lotte Lichtblau“, fügte er hinzu. „Du musst sie unbedingt treffen!“
So fuhr ich im Juni 1967 mit einem geliehenen Auto nach Washington, um Gressers Skulpturen zurückzubringen und danach mit Gresser nach New York. Bei einem Abendessen für Künstler in einer Wohnung im New Yorker Stadtteil Chelsea traf ich Charlotte Lichtblau und ihren Mann John. Nach einem netten und interessanten Gespräch fuhr ich spät nachts nach New Haven, wo ich mein Studium an der Yale Universität fortsetze.
Einige Monate später bat mich der Romanschriftsteller John Hersey, eine Ausstellung zu organisieren. Charlotte half bei der Gestaltung der Ausstellung von 40 Skulpturen Gressers, die wir Anfang 1968 zeigten. Bald danach beschlossen Hersey und ich, dass der große, vertafelte und weiß ausgemalte georgianische Speisesaal des Colleges als Galerie fungieren sollte. Eine unserer ersten Aktivitäten war die überaus erfolgreiche Ausstellung mit den großen Bilder von Charlotte Lichtblau, ergänzt durch 20 kleinere Arbeiten, die im angrenzenden Gemeinschaftsraum angebracht wurden.
Da ich während meines Studiums gelegentlich für die Athena Galerie gearbeitet hatte, hatte ich einige wirklich talentierte Künstler kennen gelernt. Aber Charlotte Lichtblau wurde für mich zur Offenbarung. Leidenschaftlich und entschieden kümmerte sie sich sowohl um Inhalt als auch Form und sie arbeitete in vielen Genres. Ihre Ambitionen waren keine geringen. Sie glaubte daran, wie ich allmählich verstand, dass das Leben von Menschen verändert werden kann, indem sie vollkommener sehen lernen. Charlotte Lichtblau wollte sie erkennen lassen, wie komplex und beachtenswert sogar gewöhnliche Objekte sind, damit sie den aufrüttelnden Reichtum ihrer Umwelt erfassen und verstehen können. Sie wollte den Betrachtern Ehrfurcht vor den „einfachen“ Wahrheiten der Dinge und Menschen vermitteln. Großen Künstler beurteilte sie vor allem nach deren Fähigkeit, die Art des Denkens und Sehens verändern zu können. Obwohl sie ihre eigenen Fähigkeiten bescheiden beurteilt, möchte sie genau dies tun.
Ähnliche Hoffnungen hatten die politisch engagierten Künstler Amerikas der 30er Jahre. Ihre Arbeiten lernte ich im Alter von 22 kennen, als ich begann, mich mit bildender Kunst ernsthaft zu befassen. Die Hoffnung, dass uns das Sehen verändern könnte, war auch die kraftverleihende Vision für das Schaffen der amerikanischen Dokumentaristen, etwa für die brillanten Arbeiten von James Agee und die beeindruckend deutlichen Photographien von Walker Evans. Sie erzählen über die tiefe Würde und rückhaltlose Menschlichkeit von amerikanischen Armen und Außenseitern, den weißen Farmpächtern in Alabama in „Let Us Now Praise Famous Men“.
Der Ansatz von Charlotte Lichtblau war für mich aufregend europäisch und insgesamt unterschiedlich zum oftmals naiven Optimismus der 1930er Jahre in Amerika. Obwohl ihre Stillleben zeigen, dass sie Picasso ernst nahm, traten andere starke und für mich interessantere Einflüsse zutage: Max Beckmann’s Mythologien der Gewalt, Leiden und Exil, die dunklen Mysterien von Emil Nolde, die irritierenden Farben und starken Konsistenz von Malern wie Ludwig Kirchner, Paula Modersohn-Becker und Max Pechstein.
Ich sah die neue Welt der Kunst in einem Kontext, der weit entfernt war von der Spannung und Unsicherheit im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit und dem Horror des Holocausts, der Charlotte Lichtblaus Arbeit manchmal durchdringt. Die Wohnung der Lichtblaus an der West End Avenue wurde 1968 zu meiner hauptsächlichen New York Anbindung. Es war ein Ort von außergewöhnlicher Wärme. Wir diskutierten über Musik, Oper, Psychoanalyse oder das Tagesgeschehen. Die Wohnung war voller Bücher und verschiedenartigster interessanter Gegenstände. Obwohl die Bilder an den Wänden sehr stark, sogar beunruhigend waren, konnten sie meine Freude, in diesen Räumen zu sein, nicht mindern. Sie störten mich auch nicht dabei, meine eigene tiefe ideologische Überzeugung eines eventuellen sozialen und politischen Fortschritts auf die Probe zu stellen.
Ich wusste natürlich, dass beide Lichtblaus aus dem Wien der späten 1930er geflüchtet waren und dass Verwandte in den Lagern umgebracht worden waren. Ich wusste auch vom Alptraum der Besetzung. 1946 fuhr Charlotte zu John nach Deutschland, wo er für die US Armee diente, und zwar für das OSS. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Aussagen über NS-Verbrechen für die kommenden Nürnberger Prozesse zu sammeln. All das formte den Hintergrund, Charlotte Lichtblaus beunruhigendste Arbeiten zu erfassen – grässliche Vogelscheuchen mit Gasmasken, Messer, deutsche Helme. Es handelt sich um herrliche Tintenzeichnungen. Mit diesen Arbeiten wollte sie, so Charlotte, die Alpträume dieser Jahre durch Malen zu verarbeiten.
Dass sie scheinbar begriffen, dass nicht nur die vergangene, sondern auch die gegenwärtige Welt voller Ungerechtigkeiten und Grauen war, gehörte zur grundsätzlichen Auffassung des liberalen kosmopolitisch orientierten New York. Dennoch, nichts davon bereitete mich auf die Stadtbilder vor, die 1968 aus dem kleinen Zimmer auftauchten, das Charlotte als Atelier benutzte. Ich erinnere mich daran, wie es mich faszinierte, auf welche Weise sie Distanz zu diesen Arbeiten gewann ‑ durch umgedrehte Feldstecher. Dennoch halfen mir weder Nähe noch Distanz, um die Bilder zu mögen oder zu verstehen.
Das lag daran, dass ich nicht glauben mochte, dass die Bilder irgendetwas von New York verkörpern würden, der Metropole, die ich voller Wunder erlebte. Ich konnte oder wollte mir nicht vorstellen, dass die Grausamkeiten, die sie abbildeten, auch nur annähernd metaphorisch zu der Stadt, die mich so beeindruckte, gehörten. Was war denn so unmenschlich an den hohen Gebäuden? Warum sollte ich mir New York als Totenstadt vorstellen? Ich wandte mich ab, formulierte nicht einmal in meinen Gedanken derartige Fragen und sprach sie nie aus. Nun ist es offenbar: Ich wollte es nicht wissen!
Der Protest von Charlotte Lichtblau stellte Fragen des menschlichen Verlusts zur Debatte, denen die an Einfluss verlierenden Modernisten und progressive Politiker wenig entgegenzusetzen hatten. Deswegen verwundert es nicht, dass ihre Arbeiten nur auf eine beschränkte Resonanz stießen. Weder ihre harscheste Kritik an der zunehmend seelenlos werdenden Welt, noch ihre Sisyphusarbeit sich mit Arbeiten von wirklicher Ausstrahlung zu befassen, hatten eine dauerhafte Verbindung zu der vom Trend getriebenen Kunstwelt. Charlotte Lichtblau ging weiter ihren Weg, von außerordentlichem Protest bis hin zu anderen verunsichernden Arbeiten. Nur wenige aufmerksame Zeitgenossen erkannten den ungewöhnlichen und überaus schöpferischen Pfad, den sie eingeschlagen hatte.
3. Biblische Themen
Die Arbeiten, die ich angesichts der aufgeworfenen Fragen als relevanter hielt, bedrohten mein eigenes Gedankengebäude in weitaus geringerem Ausmaß. Fast alle hatten einen explizit religiösen Inhalt. Hier bot mir mein eigener intellektueller Hintergrund die Grundlage für Fragen. Als abgefallenes Mitglied der „Congregatonalists“ (einer freien, protestantisch orientierten Kirchengemeinde) war wenig von dem übrig geblieben, das man Glauben nennen könnte. Aber ich hatte als Diakon in der Kapelle von Yale gearbeitet. Damals war William Sloane Coffin Kaplan und seine Predigten beeinflussten mich sehr. Engagiert in der Bürgerrechtsbewegung wusste ich, dass die Stärke der Bewegung seit 15 Jahren von den südlichen Kirchen der Schwarzen ausgegangen war. Martin Luther King Jr. wurde von den alten Geschichten nicht nur inspiriert, sondern zog daraus auch profunde psychologische und moralische Schlüsse. Darüber hinaus befasste ich mich in meinem Studium mit englischer Politik des 17. Jahrhunderts, ein Feld, das von der Theologie dominiert wurde und das manchmal brillant erörtert und tief empfunden wurde.
Meine Neugierde war also geweckt, um behutsam hinzusehen und meine Fragen anzubringen. Ich fand bald heraus, dass Charlotte Lichtblau einige Jahre zuvor in der Hoffnung, dass ihre Bilder mehr Menschen ansprechen könnten, die geheimnisvollen und schwer zu entschlüsselnden Mythologien von Malern wie Beckmann verworfen hatte und den bekannteren biblischen Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament den Vorzug gab, die lange den Schwerpunkt der westlichen Malerei gebildet hatten. Hier waren ihre Bilder ausdrucksstark, manchmal kraftvoll sexuell und sie standen oft im Kontext mit dem Sterben. Den alten Geschichten wurde durch die Verbindung zum verborgenen aber unruhigem Unterbewusstsein neues Leben eingehaucht.
In der West End Avenue stand in den Bücherregalen immer eine vollständige Ausgabe Sigmund Freuds. Meine eigenen Ansichten, die sich sowohl an Freud als auch an den gemäßigten post-Freudianer Erik Erikson anlehnten, erhielten zunehmend eine Basis. Ich erkannte, dass die Erleuchtung der jüdischen und christlichen Geschichten gepaart mit diesen Gedanken die essentielle Kraft in Charlotte Lichtblaus Arbeiten ausmachte.
Mehrere Jahre lang sah ich jeden Tag die Darstellung des angespannt entsetzten Abraham, der ein Messer über den angebundenen Körper seines Sohnes Isaak hielt. Der rettende Widder war für den gläubigen unglücklichen Vater in den Büschen noch nicht zu erkennen. Ich erinnere mich an ein „Thanksgiving“-Essen, als mich ein Sechsjähriger mit der unerwarteten Frage konfrontierte, warum der alte Mann den Buben töten wolle.
Über diese Darstellungen sprach Charlotte immer wieder. Für sie sei es die einzige Möglichkeit, in dieser für Abraham furchtbarsten Situation, die sie wiederholt dargestellt hatte, einen Sinn zu finden, indem sie diese als Vorhersage sah. Und tatsächlich: Bei genauerer Betrachtung ist der gekreuzigte Christus im Eck des Bildes zu erkennen. Obwohl er zornig und fassungslos zu sein scheint, verlangte Gott letztendlich nicht, dass Isaak geopfert wurde. Aber er gab seinen eigenen Sohn auf.
Die Darstellung bietet somit eine Lösung an, ohne diese jedoch zur Diskussion zu stellen. Abrahams Grausamkeit und die befremdende Rohheit dieser alten Geschichte bleiben in Charlotte Lichtblaus Bild unvermindert präsent. Gegenüber dem fanatisierten Glauben und den unvorstellbaren Forderungen der Patriarchen steht immer die Hoffnung auf Gnade und sei es ein Widder in den Büschen oder ein Erlöser auf dem Kreuz, der für unsere Schandtaten büßt. Abrahams mörderischen Todesernst zu erkennen und darzustellen ist ein Ausgangspunkt. Damit müssen wir uns befassen, einerlei ob unsere Mittel vernunftgemäße Argumente, Interventionen oder gläubige Hoffnung sind.
Den harten Fakten ins Auge zu blicken, ist ein Leitmotiv von Charlotte Lichtblaus immer wiederkehrender Auseinandersetzung mit der Geschichte von Abraham. In dem Bild „Sarah stellt Hagar Abraham vor“ wird gezeigt, wie die alte und kinderlose Frau dem alten Abraham hilft, sich auf ihr ägyptisches Sklavenmädchen Hagar zu zwingen. „Hagar und der Engel“ zeigt Hagar in der Roten Wüste mit ihrem Kind Ismael. Sie war auf Grund von Sarahs Drängen grausam vertrieben worden. Oben links im Bild liegt das Kind unter einem schattenspendenden Baum. Aus der Genesis wissen wir, dass er bereits aufgegeben war und seine Mutter es nicht ertragen konnte, ihn verdursten zu sehen. Eine große schwarze Wolke, scheinbar vom Flügelschlag gebildet, hängt im Vordergrund über Hagar. In der Mitte erinnern ein paar blaue Tropfen an die Quelle, die der Geschichte entsprechend Hagar und ihren Sohn das Leben rettete. Was wir sehen, ist jedoch nicht die Erfüllung des Versprechens, sondern die angstdurchdrungene Dunkelheit der schwachen Hoffnung. (Wer ist der puritanische Heilige, der sagte: „Es ist furchtbar in die Gnade Gottes gefallen zu sein.“?)
Nachdem sie bereits einige Jahre ihre Bilder ausgestellt hatte, erfuhr ich in einem Gespräch mit Charlotte Lichtblau über ihre traurige Beobachtung. Die alten Geschichten, die einst Gemeingut sowohl von mehr als auch weniger gebildeten Menschen waren, sind inzwischen weitestgehend vergessen gewesen. Ohne die Hilfe von Wörterbüchern oder Bibelstudien, waren sogar ihre zugänglicheren Arbeiten so schwer zu verstehen wie jene von Beckmann.
Solche Komplikationen faszinierten mich eher, als dass sie mich abgestoßen hätten und ich wollte derartige Darstellungen in meinem Heim haben. 1977 fragte mich ein Student, warum so viele düstere und stark wirkende Bilder in meinem Wohnzimmer seien. Ich antwortete, erstaunt über die Selbsterkenntnis, dass es gut sei, wenn wir derartige Bilder in uns tragen, sie auch an die Wand hängen und ansehen. Immerhin leben wir mit all diesen verstörenden Gedanken, mit Zorn und gewaltsamen Sehnsüchten, Verzweiflung und Terror. Das sind Bilder, die scheinbar von Baum zu Baum im Hinterkopf unseres Rhizomhaften und halb-erleuchteten Geistes gleiten.
Aber es gibt bessere Gründe, um die Bilder von Charlotte Lichtblau zu betrachten. Augustinus sagte, dass Gott in der Welt vieles erlaubte, dem es an Göttlichem mangelte, denn „die Welt ist wie ein vollkommenes griechisches Gedicht, konterkariert von einer Antithese.“ Wenn wir dorthin sehen können, was uns verängstigt, können wir auch die Schönheit mit solcher Kraft wahrnehmen, um unsern Mustern Einhalt zu gebieten. Singen klingt für uns, weil wir wissen, was Weinen bedeutet.
4. Die Berge von Altaussee
An einer Wand in Durham hängt ein Selbstportrait – eine Tuschezeichnung ‑ von Charlotte Lichtblau mit einem der Berge von Altaussee im Hintergrund. Sie sitzt malend im Freien. Über dem See kann man bei den Bergen – in den Felsen ‑ das Gesicht ihrer Mutter, Erna Adelberg, erkennen. Ein wenig darüber ist ihr Vater, Ernst, ähnlich in den geologischen Strukturen skizziert. Die Deutlichkeit der Erinnerung in dieser anziehend ungezwungenen Arbeit ist ungewöhnlich. Ob bewusst gemalt oder nicht, sind die Erinnerungen für sie sowohl bei der Gestaltung der Bilder als auch in der Erfahrung, sie zu malen, immer präsent.
Seit 30 Jahren gilt, dass ich die Bilder, die ich anfangs am beunruhigendsten fand, schlussendlich am meisten schätze. Viele davon handeln von den Darstellungen und Erfahrungen in den österreichischen Bergen, wo Charlotte Lichtblau die Sommer ihrer Jugend verbracht hatte. 1990 fuhr ich schließlich das erste Mal dorthin. Ihre Arbeiten hatten mich gut auf die Intensität des Lichts und die überwältigende Macht und Schönheit der Berge vorbereitet. Ich habe auch mit der Dunkelheit gerechnet, nicht nur der Dunkelheit der tiefen Seen, der dichten Wälder und mit den furchteinflößenden Stürmen, sondern auch mit den die zahlreichen dunklen Erinnerungen, die mit dieser dramatisch wirkenden Landschaft aufs engste verbunden sind.
Im Bild „Das Begräbnis des Salzminenknappen“ sieht die Aufstellung der Sargträger aus wie eine Gruppe von Flüchtlingen aus den Lagern Hitlers. Deren Gestalt wurde reliefartig gemalt und ihre karikaturhaften Gesichtszüge sind durch dick aufgetragene Farben eingemeißelt. Der Sarg, den sie tragen und die dunklen Gestalten, die dahinter in die gotische Kirche eintreten, zeugen deutlich vom Tod. Drei schwarze Schirme mögen einige vor dem Regen schützen, aber im Vordergrund umgeben Wasserpfützen die Füße derjenigen, die drauf warten hineinzugehen.
Dieses dunkle Bild ist nichtsdestotrotz voll Leben. Die gotischen Mauern sind meist mit dicken weißlich grauen Pinselstrichen gestaltet, an einzelnen Stellen schimmert die raue Leinwand durch, gemeinsam mit ein wenig Rot und unterlegten dunkleren Farben. Die nachdrückliche Stofflichkeit suggeriert Festigkeit des Mauerwerks. Ob man die Mauern als Zeugnis für die Stärke des Glaubens sieht oder als erstaunliche Leistungen der Steinmetze und frühen Architekten ‑ sie bleiben emporstrebende Wunder. Fabelhaft sind auch die umherwandelnden Musiker. Für die Trauermärsche können ihre Blasinstrumente nur mit starkem Atem geblasen werden. Im Angesicht des Todes wissen wir, dass die Musik weiterhin gehört wird. Blasmusikkapellen spielen sowohl für den Triumph als auch die Tragödie.
Ein anderes, sogar noch dunkleres Bild aus jener Zeit heißt „Die Geburt des Sees“. Es zeigt keine Menschen, aber heftige Sturmwolken im oberen Bildbereich. Von dort fällt der Berg steil ab in den darunter liegenden See. Die Schönheit des Bildes ist groß, aber genauso groß ist die außergewöhnliche Spannung, die sich nicht nur aus dem oben zusammen brauenden Sturm und den hohen Bergen rechts und in der Mitte aufbaut, sondern auch aus den helleren Farben des schmalen Wasserfalls, der in den dunklen Abgrund des Sees stürzt.
Diese Perspektive ‑ der Berg, der See, die Hügeln auf der Linken ‑ taucht Dutzende Male in Charlotte Lichtblaus Arbeit auf. Manchmal spazieren Menschen entlang eines Wegs und oftmals wird ein kleines Marterl unter den Kiefern auf dem Hügel dargestellt. (Noch 1990 war auf einem Marterl eine über hundertjährige Darstellung eines ertrunkenen Mädchens zu sehen, das von einer Kuh ihrer Herde in den See gestoßen wurde.)
In dieser Region sind die Erinnerungen reichhaltig und vielfältig. Manche, wie jene über die Salzminen, reichen bis in die Keltenzeit zurück. Die Kruzifixe der Dorffeste passen gut zu den Überresten alter Bräuche. Blumen und die übermütige Stimmung verbergen jeden Zusammenhang mit den frühen Kämpfen bei der Christianisierung der alpinen Dorfbewohner. Sichtbare Zeugnisse der zeitlich näher zurückliegenden Spannungen scheinen ebenfalls kaum vorhanden zu sein. Aber in Altaussee weiß jeder, dass die Gegend im frühen 20. Jahrhundert besonders unter der Wiener Kulturelite äußerst beliebt war und viele von ihnen Juden waren. Gustav Mahler schrieb hier Symphonien, Theodor Herzls Fahrrad ist im Ortsmuseum ausgestellt. Die Berge waren später für die Nazis genauso anziehend wie für ihre Opfer. Hitlers Refugium in Berchtesgaden liegt nur einige Stunden entfernt.
Obwohl nur selten im bewussten Schaffensprozess, sind mehrere Bilder Charlotte Lichtblaus über die Alpen von Holocausterinnerungen durchdrungen. Eine dunkelartige liebliche Darstellung des Berghangs, des Sees und des kleinen Marterls zeigt beispielsweise mächtige Felsen neben einer sitzenden nackten Figur. Diese Felsen, nachgeahmt von anderen Felsen, liegen an der sich krümmenden Kante des Wassers. Das Unheilvolle dieses Bildes ist, dass die Felsen ihre Stärke aus der Art ihrer Nachahmung von Schädeln ziehen und vielleicht auch aus der traditionellen Vorstellung jüdischer Gesichter.
Die Betonung von Erinnerung und Geschichte in Charlotte Lichtblaus Bergbildern erklärt aber nur einen Teil. Selbst in den 60er und noch klarer seit den 70er Jahren befassen sich die Bergbilder im Kern mit Hoffnung, Eros und Transzendentalität. Am deutlichsten ist dies in den drei Bildern zu sehen, die das Ausseer Titychon bilden. Sie symbolisieren ebenso deutlich das Leben und die Schöpfung wie die Stadtbilder das Sterben und die Vernichtung.
Wie beim „Das Ende der ‚Brownstone’-Ära“ konnte ich es nahezu 15 Jahre lang kaum ertragen, das zentrale Bild dieser drei, „Der Mittelpunkt der Welt“, zu betrachten. Eine Frau mit einem ausdruckslosen Gesicht sitzt in einem Feld mit intensiven Grüns. Je mehr Gelb darunter gemischt ist, umso extremer wirkt das Grün, fast schon giftig. Der Mann, der unmittelbar vor ihr ‑ allerdings in einiger Entfernung ‑ steht, scheint von ihr halb verhüllt zu sein. Seine breiten, knöchrigen Schultern sind von ihrem Rock umhüllt. Sein rundliches Gesäß und seine Schenkel in den schwarzen Hosen, die seinen Körper nur noch strecken, ragen aus dem tiefen grünen Feld und werden von ihm getragen. Um die ganze Darstellung sexuell zu erhöhen, ragt ein rosa Turm mit einer scharfen dunkelblauen Spitze in den wogenden blau-weißen Himmel. Der Mann, die Frau und der Turm sind alle in derselben zentralen vertikalen Achse des Bildes positioniert.
Anders als diese Elemente könnten die Häuser links vom Turm, die Bäume und sogar die Berge in einem konventionellen Landschaftsbild eingebettet sein. Aber die kreisförmige gelbe Straße nach links, die vom Mann rechts einbiegt und sich dann von beiden Seiten zur Kirche krümmt, verleiht dem Bild einen Hauch von Hyperrealität. Die Straße und die Figuren könnten kaum außerhalb unserer Vorstellungswelt gesehen werden. Man tendiert dazu zu sagen: „Zu viel!“, oder: „Warum hat die Malerin so viele Regeln gebrochen?“
Die anderen beiden Bilder des Triptychons, „Die wissenden Steine“ und „Wilde Narzissen“, wurden in nun schon bekannter Weise arrangiert. Der tiefblaue See zur Rechten, dahinter purpurfarbene, graue Berge, Felsen, grünes Gras und Waldhügel zur Linken. Im linken Vordergrund von „Die wissenden Steine“ bückt sich eine Frau, um große Blätter vom Boden aufzuklauben (Einmal erwähnte Charlotte Lichtblau, aus ihnen seien die bei den Festen getragenen Hüte gemacht worden). Entfernt davon sind zwei Figuren auf einem Weg zu sehen. Der schützende Arm der größeren liegt um die Schulter der kleineren.
In „Wilde Narzissen“ stehen am unteren rechten Rand des Sees und neben der Spitze von zwei großen Steinen vier oder fünf Figuren – eine davon schwanger ‑, die zwei, von weißen Blumen übersäte Hügel hinaufschauen. Neben ihnen, in der unteren rechten Ecke taucht ein großes Gesicht mit geschlossenen Augen auf, vielleicht ein Selbstportrait der Künstlerin.
Am zweiten Hügel können wir zwei Stämme von Kiefern sehen, die am Rand der Wiese und der Blumen stehen und deren Wipfel über das Bild hinausragen. In der Nähe schreitet oder kniet eine eher dunkle Gestalt. Eigentlich kann das nur Christus im Garten von Gethsemane sein. Danach befragt, lässt Charlotte Lichtblau die Ähnlichkeit gelten. Aber zugleich vermerkte sie, dass sie während der Arbeit an dem Bild nicht bewusst an eine derartige Identität dieser Figur gedacht hätte.
Weitaus weniger schwerfällig und dünner aufgetragen als einige der frühen Alpenbilder scheint für mich jedes dieser drei großen Arbeiten auf die Schönheit und die Erkenntnis zu verweisen, die über das hinausführt, was auf Leinwand gebannt werden kann. Es geht, so glaube ich, um die Geheimnisse der Generation über die tiefe Verbundenheit mit der Natur, die jeder von uns sterblichen Wesen in sich trägt. Zwei Darstellungen verkörpern die ungeheuerliche Schönheit und verweisen zugleich auf das Dahinterstehende. Jedoch „Der Mittelpunkt der Welt“ ist zweideutiger, indem das Bild Glücksgefühle und bestürzend schöne Szenen zeigt, uns aber nicht ausruhen lässt. Nachhaltiger als die beiden anderen Bilder fordert es uns auf, das wir den Akt des Imaginierens für uns selbst erledigen – das betrifft nicht nur das Denken und die Gefühle, sondern das Wahrhaftiger-Werden in einem erfüllteren Leben als je zuvor.
Aussee war vor dem Krieg nicht der Garten Eden und danach auch nicht. Aber sich Aussee damals und heute als eine Art Paradies vorzustellen, führt uns zu mehr zurück als zu Adam und Eva, die wir in uns tragen. Es kann uns, nicht nur für den Moment, die Erinnerungen an die Ehrfurcht vor den Narzissen oder den Bergen wiedergeben. Sich Aussee auszumalen vermag auch dabei zu helfen, uns für die Ehrfurcht vorzubereiten, die Welt vom Gipfel des Berges zu sehen.
5. Portraits
Während ihrer gesamten Karriere portraitierte Charlotte Lichtblau Menschen, die sie am besten kannte: Familienmitglieder, Freunde und manchmal deren Kinder. Es sind also Personen, die nahe genug standen, um sich auf den intimen Prozess der Portraitierung einzulassen. Da Charlotte Lichtblau schon lange lebt, sind manche der Portraitierten bereits tot. Einige starben in hohem Alter, andere erschreckend jung ‑ Tamara starb an Knochenmarkkrebs, Tony an einem Herzinfarkt, Richard an Aids, Charlie kam bei einer Schießerei in Harlem ums Leben.
In allen Portraits von Charlotte Lichtblau scheint die Triebkraft der Erinnerung ziemlich stark zu sein. Jedes Bild verkörpert einen, in gewisser Weise immer zum Ziel führenden Versuch, das tiefe Innere eines Lebens zu erkennen. Wie sie das macht, variiert: manchmal ist sie prophetisch und die Menschen sehen mit der Zeit tatsächlich dem Bild immer ähnlicher. Andere Portraits, wie jenes des Malers Joseph Floch, anerkennt die Illusion der Identität und Stärke, die ihre Portraitierten der Welt anbieten.
Das Portrait von Richard erinnert an die leidenschaftlichen asketischen Priester, die Velazquez manchmal malte. Richard, ein australischer Priester der Episkopalkirche, war früher katholischer Priester gewesen. Später begann er mit rasch erwachendem Talent zu malen. In nur wenigen Tagen verlor er sein Augenlicht und das Leben durch Aids. Ich kenne kein besseres Denkmal als jenes, das die vollständige Präsenz seiner Abwesenheit von uns verkörpert – eine Abwesenheit, die zugleich endgültig und unakzeptabel ist.
Der Schluss eines Gedichtes von Jorge Luis Borges passt, so glaube ich, zur den Portraits von Charlotte Lichtblau:
Sicherlich sind sie Talismane,
aber nichts nützen sie gegen den Schatten, den ich nicht nennen kann,
den Schatten, den ich nicht nennen darf.
Jorge Luis Borges (aus dem Gedicht „Talismane“, in: Die tiefe Rose, 1975)
Möglicherweise gelten diese Worte auch für die Landschaftsbilder von Charlotte Lichtblau oder überhaupt für jede Ausstellung ihrer Arbeiten. Gewiss, sie drücken weitaus weniger aus als die gesamte Geschichte, doch sie erfassen einen wichtigen Aspekt des lebenslangen Projektes der Künstlerin. Sie malte zum Teil aus dem Impuls heraus, um das zu beschützen oder um sich das ins Gedächtnis zurückzurufen, was sie einst so geliebt hatte. Dafür gibt es keine Zauberkraft mit Erfolgsgarantie, nichts das uns oder unsere Wahrnehmungskraft erhalten kann, keine Sicherheit angesichts der Verheerung durch das Alter und den Verlust.
Es liegt ein Talisman-artiger Zauber in diesen Arbeiten. Sie tragen die unverhoffte Alchemie ihrer Erschaffung in sich, die Siege, die den einfachsten Elementen aus Terpentin und Öl, Pigment und Leinwand für das Visionäre und die Einsicht abgerungen wurden. Der Mut zu sehen ist der Mut zu leben, die Gelegenheit, die Angst und den Tod zu erkennen ohne wegzusehen, den insgeheimen Hoffnungen Ausdruck zu verleihen und die eigene Basis im Leben zu finden. Tagtäglich, Jahr für Jahr hat dies Charlotte Lichtblau getan: ihr Lebenswerk ist es, Wunder aus dem sich Wundern zu erschaffen.
Bruce Payne ist Dozent am Terry Sanford Institut für Politikwissenschaft der Duke Universität, North Carolina. Er ist Direktor des 1996 ins Leben gerufenen Programms „Leadership and the Arts: A Duke Semester in New York City“. Dieses Programm bereitet Studenten auf die Planung ihre Karrieren im Rechtswesen, in Wirtschaftswissenschaften, Staatswissenschaften und Pädagogik vor und es bietet ihnen die Gelegenheit, sich intensiv mit Kunst zu befassen.
Payne unterrichtet seit 1971 an der Duke Universität Kurse zur Thematik Führungskräfte, Ethik, Politik und Kunst, Philanthropie, Armut am Land, Ethnopolitik und andere Kurse, die sich mit öffentlichen Entscheidungen und Werten befassen. 1983 erhielt er an seiner Universität eine Auszeichnung für seine herausragende Lehrtätigkeit.