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Zwischen Wien, Altaussee und New York:

Eine Exilkünstlerin?

Albert Lichtblau

Vorbemerkung: Interviews passieren jeweils an einem konkreten Ort und zu einem konkreten Zeitpunkt, auch jenes mit Charlotte Lichtblau. Ende Jänner 2000 ist für die österreichischen Emigranten in New York, die 1938 aus Österreich fliehen mussten, von einem Thema besetzt, über das die New York Times tagtäglich ausgesprochen sachlich und oft auf Seite 1 berichtet: die schwarz-blaue Regierungsbildung in Österreich und der drohende Boykott der EU-Länder. Vor allem das schlampige Verhältnis Österreichs zu seiner NS-Vergangenheit berührt alte Wunden der Vertriebenen. Nicht während des Interviews, aber während der Pausen, beim Essen, diskutieren wir – Charlotte Lichtblau und ich ‑ die Vorgänge in Österreich, mit unterschiedlichen Meinungen.

Charlotte Lichtblau, mit der ich – um es gleich zu Beginn vorwegzunehmen – nicht verwandt bin, hat Sorge, dass sich die politische Situation auch auf ihre Ausstellung auswirken könnte. Für Charlotte Lichtblaus Schwester, Doris, war die politische Entwicklung in Österreich letztendlich ausschlaggebend dafür, nicht nach Österreich mitzukommen.

Dieser Text und das Interview sind das Ergebnis einer fast zehn Jahre dauernden Annäherung an das Werk der Künstlerin. Ich bin kein Kunstkritiker, sondern Historiker, und konnte die Arbeiten von Charlotte Lichtblau als unbedarfter Betrachter auf mich wirken lassen. 1993 fand mein erster Besuch im Atelier im dritten Stock des Hauses Broadway Nr. 2255 in der Upper Westside von Manhattan statt. Wer die Kolonie der Österreicher in New York kennt, weiß, dass nach wie vor viele Vertriebene in diesem äußerst lebendigen New Yorker „Grätzel“ leben, besonders Künstler und Intellektuelle. Charlotte Lichtblaus Bekannter aus Jugendtagen, der Schriftsteller Frederic Morton, wohnt gleichsam ums Eck. Noch bis in die 90er Jahre gab es das Café Eclair in der Nähe, das die sich nach Schnitzeln und Mehlspeisen sehnenden Emigranten magnetisch anzog. In der Emigration wächst der Wunsch, Analogien zur früheren Heimat zu finden. Wer denkt als Tourist in New York schon daran, dass sich tatsächlich Bezüge zwischen den Alpen und Manhattan herstellen lassen? Für visuell veranlagte Menschen kann das scharfe Licht der Metropole, der Kontrast zischen Hell und Dunkel, atmosphärisch eine Stimmung erzeugen, die an Alpentäler erinnert.

Im Atelierhaus Broadway Nr. 2255 reiht sich ein Atelier an das andere, es sieht nach Arbeit aus, die Ateliers sind hell und dröhnen vom Lärm der Großstadt, den Autos und wummernden Klimaanlagen.

Sucht man in Bildern nicht immer wieder das Eigene, sucht nach Spiegeln, die einem das Innere erleuchten, die einen unerwarteten Schritt ermöglichen und dabei erleichtern oder belasten können, sucht man nicht nach neuen Fragen? Der Zugang zu Charlotte Lichtblaus Werk war für mich keineswegs leicht und unmittelbar. Eine kleine Ausnahme gab es doch, denn mir fiel sofort etwas auf, das mich an das kindliche Spiel erinnerte, in jeder Wolke nach Figuren zu suchen: In vielen Bildern konnte ich welche entdecken. Das meiste irritierte mich anfangs, die religiösen Motive etwa stießen bei mir als Agnostiker auf Widerstand. Jeder meiner Versuche, von Charlotte Lichtblau Erklärungen zu erhaschen, waren anfangs vergeblich. Sie verweigerte Antworten, nach denen ein Historiker dürstet: Erklärungen und Hintergrundinformationen. Nein, die Bilder sollen aus sich selbst sprechen. Also blieb in meiner Erinnerung Schweigen. Nur bei einem sehr intensiven Doppelportrait hat sie mir die Entstehungsgeschichte erzählt. Es zeigt einen befreundeten Priester und Maler, Father Richard Mann, der sich in einen Mann verliebte und später an Aids starb. Bei großformatigen Arbeiten fiel mir der expressive Stil auf. Die Verwendung heftiger Farben und elementarer Formen machten mir im ersten Moment klar, hier handelt es sich um aussagekräftige und intensive Kunst, um eine Schaffensweise, die nicht ausweicht, sondern versucht, den Punkt zu finden, das Elementare, das Substantielle. Später wurde mir immer klarer: Die Inhalte der Bilder geben sich nicht im ersten Moment preis, sie bewahren Geheimnisse, und sie fordern den Betrachter heraus.

Zur Zeit meines ersten Atelierbesuchs setzte ich mich intensiv mit der Exilforschung auseinander und suchte auch im Werk von Charlotte Lichtblau danach, wie sich die Erfahrung der Vertreibung und des Holocaust darin manifestieren. Später erst verstand ich, dass Charlotte Lichtblau die Holocaustthematik nicht direkt darstellte, sondern sich dem Holocaust auf andere Art stellte, vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Opferfrage. In einem Interview wird sie mir erklären: „In Wirklichkeit ist die Brutalität von Anfang an da.“

Bei meinem Atelierbesuch fiel mir eines sofort auf: die vielen Darstellungen alpiner Landschaft. Dass es sich dabei fast ausschließlich um das Ausseerland handelt, bemerkte ich erst allmählich. Zu jener Zeit war Aussee für mich bloß ein Name, nun weiß ich, dass es auch die Bezeichnung für eine Herzenskrankheit ist, die „Ausseer Krankheit“. Der Krankheitsherd basiert auf einer Liebe zur Landschaft, ihrer Menschen und Riten, die stellvertretend für viele andere der Regisseurs Hans Neuenfels so beschrieb: „Die Liebe zu einer Landschaft ist ähnlich wie die Liebe eines Mannes zu einer Frau oder umgekehrt. Im Grunde bleibt sie für alle anderen zutiefst unverständlich und wird dubios, wenn man sagt: „Ich bin kein Bergsteiger, kein Schifahrer, kein Drachenflieger, kein Angler, kein Jäger, kein Anhänger von Volksmusik und Trachten. Dialekte machen mich ebenso nervös wie gestaltete Gemütlichkeit, und dennoch ist Altaussee wirklich mein Altaussee.“[1] Abgesehen von ihrer Liebe für Dirndln, könnte das Zitat auch von Charlotte Lichtblau stammen, die ebenfalls an dieser eigentümlichen „Ausseer Krankheit“ leidet. Aus dem New Yorker Exil kam sie immer wieder zurück, um sich von dieser eigentümlichen Krankheit zu erholen. Zu erholen? Nein, der Begriff dürfte nicht zutreffen, aber ich finde auch keinen alternativen. Vielleicht so: Um sich mit diesem geliebten Sommerfrischenort ihrer Kindheit auseinanderzusetzen, sich ihn nach dem Verlust wieder neu anzueignen, um ihre Wurzeln zu regenerieren, an den Ursprung zurückzukehren, um den Ort in immer neuen Facetten zu durchdringen, jenen Ort, an dem sie sehen gelernt hat, das Begreifen und Erfassen der Welt, die Liebe und den Gegenpol: den Tod.

Exilkunst? Charlotte Lichtblau wehrt sich, wie viele, zurecht gegen die simplifizierende Schubladierung. Sind nicht Künstler, abgesehen von den vielen nationalistischen Irrläufern, generell kosmopolitisch, grenzübergreifend oder besser gesagt, dem Universellen zugewandt? Und gewinnen sie nicht aus der Spannung zwischen der lokalen und der universellen Perspektive jene Visionskraft, die uns als Betrachter berührt? Auf die Frage, ob sie sich als Exilkünstlerin sieht, erhalte ich eine für sie charakteristische Antwort: „Alle Kunst ist Exilkunst.“ Lange hat Charlotte Lichtblau die Kategorisierung „Exilkunst“ für ihr Werk abgelehnt, sich aber schlussendlich damit abgefunden, da sie einsehen musste, wie sehr die Exilerfahrung ihre Arbeit prägt. Während viele Künstler im 19. und 20. Jahrhundert versuchten, z.B. mittels Drogen eine existenzielle Grenzerfahrung zu machen, war diese für Charlotte Lichtblau eine sehr reale. Man sieht die Welt mit anderen Augen, wenn man plötzlich in Todesgefahr schwebt, der Willkür potenzieller Mörder ausgeliefert ist, fast alles, auch das Vertraute, auf der Flucht verliert, unfreiwillig ein neues Leben beginnen muss.

Eine Wiener jüdische Familie

Die Familie Adelberg war eine typische Wiener Familie, stammte aus allen Teilen Mitteleuropas, aus Wien, Böhmen und dem Elsass. Mit typisch meine ich auch das Nicht-Eindeutige, die spannende Melange von Menschen aus verschiedensten Herkunftsregionen im Schmelztiegel Wien. Erst der Nationalsozialismus sollte die Familie Adelberg zu Außenseitern mit einem Stigma definieren, das ihnen zuvor nicht mehr allzu viel zu bedeuten schien, zu Juden.

Ernst Adelberg, Charlotte Lichtblaus Vater, war aus dem Ersten Weltkrieg schwerkrank mit Malaria zurückgekommen, sein älterer Bruder Paul war im Krieg umgekommen. Österreich war seine große unglückliche Liebe, wird Charlotte Lichtblau im Interview sagen. Sie war das Vaterkind. Er liebte die Natur, die Berge, das Wandern, das Klettern. Als er aus dem Krieg zurückkam, war die Textilfabrik seiner Eltern nicht mehr zu retten. Später entwickelte er spezielle Druckverfahren für die Guntramsdorfer Druckfabrik.

Die Frauen der Familie dürften schon damals schillernde Figuren gewesen sein, allen voran Großmutter Lilli Ehrmann, geborene Heller. Sie verliebte sich in jungen Jahren in ihren Religions- bzw. Hebräischlehrer Isidor Ehrmann, geboren im böhmischen Brennporitschen; südöstlich von Pilsen gelegen. In Wien hat er eine großartige Karriere als Direktor der Phönix-Lebensversicherung vor sich. Großmutter Lilli übte sich, ganz im Stil bürgerlicher Frauen jener Zeit, in Wohltätigkeit, war Fürsorgerätin und fiel durch ihren völlig unkonventionellen Lebensstil auf.

Mutter Erna, 1902 in Wien geboren, war unter den ersten emanzipierten Frauen, die in Österreich Jus studierten. Doch statt den Beruf auszuüben, heiratete sie und brachte zwei Töchter zur Welt – Charlotte am 9. August 1925 und Doris am 15. Februar 1929. Später wird sie noch, ganz im Trend der Zeit, einen Ausflug in die Welt der Psychoanalyse wagen. Für Charlotte Lichtblaus Eltern gab es in Wien einen eigenen Kosmos: das Café Schottentor, in dem sie sich im Kreis von Schriftstellern, Ärzten und Musikern aufhielten. Die Fotografin Trude Fleischmann, der wir wunderbare Portraits der Familie verdanken, zählte zu diesem Kreis, ebenso der Schriftsteller Paul Elbogen.[2] Erna Adelberg galt als „Muse“ und war besonders dem Dichter Robert Neumann zugeneigt. Sie war eine der Suchenden ihrer Zeit, sie rebellierte gegen das Althergebrachte, während der von Charlotte Lichtblau verehrte Vater den bedächtigen, bürgerlichen Part übernahm.

Ist Charlotte Lichtblau wie ihre Mutter und Großmutter eine Rebellin? Ist es rebellisch, dass sie sich den plumpen Kategorisierungen gegenüber beständig verweigert und sich nie an den mainstream anbiederte? Ich vermute es, aber ich nehme zugleich an, dass sie es strikt ablehnen würde, den Begriff „rebellisch“ auf sich anzuwenden. Wofür rebelliert sie, wenn sie aus Not malt?

Der zweite Kosmos der Familie Adelberg war Altaussee. War das Caféhaus ein Kosmos der Erwachsenen, stand dieses geliebte Refugium der naturhungrigen Großstädter auch den Kindern offen, der Beginn einer lebenslangen Liebesaffäre für Charlotte Lichtblau. Es sei ein sehr weiblicher Ort gewesen, meint Charlotte Lichtblau heute. Und sie fügt hinzu, es beträfe auch die Rolle der Ausseerinnen. Die Ehemänner der Sommerfrischlerinnen kamen oft nur an den Wochenenden aus der stickigen Stadt. Das erste Ausseer Bild, den Dachstein, malte Charlotte Lichtblau mit 12 Jahren, das Bild hängt heute im Badezimmer ihrer New Yorker Wohnung in der Westend Avenue, Ecke 84.e Straße. Sie ging sogar einmal in die Altausseer Volksschule, da die Familie schon vor Ferienbeginn auf Sommerfrische fuhr. Wie sehr Charlotte Lichtblau Altaussee schon als Kind liebte, wird im Interview deutlich. Obwohl sie keine Ahnung von den Hintergründen der Bräuche und Feste hatte, sah sie hinter dem Schönen bereits das Unheimliche. Dieses faszinierende „Unheimliche“ wird in ihren Bildern spürbar. Sie hat es sich „angeeignet“, auch um es ganz zu „verstehen“.

„Nestwärme“ ist eines jener Wörter, das Charlotte Lichtblau zur Beschreibung ihrer Beziehung zu den Eltern verwendet. Trotzdem empfand sie schon als Kind, dass es so mit dem inszenierten Groß-Familienleben nicht so weitergehen könne. Sie spürte auch die außerhalb der nestwarmen Familie drohende Brüchigkeit des Lebens. Als Kind hatte sie auf Frieden gehofft und war überzeugt, dass es ohne Kaiser keinen Krieg mehr geben könne. Die Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuss durch Nationalsozialisten zerstörte die Illusion. Die Religion gab keinen Halt mehr. Wenn die Erwachsenen über „Gott“ sprachen, war es in Zitaten klassischer Geistesgrößen, etwa Goethes. Die christlichen Feiertage Weihnachten und Ostern wurden wie in vielen anderen jüdischen Familien ganz selbstverständlich gefeiert. Und über die Großmutter Lilli kursierte das Bonmot, sie habe ihren Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde per Korrespondenzkarte bekannt gegeben.

Charlotte Lichtblau wurde in „die“ ‑ heute würde man sagen – Alternativschule Wiens jener Zeit geschickt, in die legendäre Schwarzwaldschule. In ihrem Rückblick sieht sich Charlotte Lichtblau durch die Wiener Innenstadt gehen, jeden Tag dankbar dafür, in einer so wunderschönen Stadt leben zu dürfen. Mit ihrer Freundin Susi, der wilden Tochter der Schauspieler Kitty Stengel und Hans Jungbauer, verbindet sie in den letzten Jahren vor dem Nationalsozialismus eine innige Freundschaft. Beide lieben die Bücher von Karl May, und noch heute weiß Charlotte Lichtblau den Beginn von „Durch die Wüste“ auswendig. Von Susi, die aus Deutschland gekommen war, erfährt sie früher als andere von der NS-Wirklichkeit.

Amerika

Charlotte Lichtblau zählt zu jenen Vertriebenen, die von sich sagen, sie hätten Glück gehabt, da ihre Schwester, ihre Eltern und Großeltern nicht ermordet wurden. Glück? Vertreibung und der Verlust von anderen nahen Verwandten lasten trotzdem schwer. Für die Verwandten in Böhmen gab es kein Entkommen mehr. Charlotte Lichtblaus Eltern gelang es mit ihren Kindern zuerst, nach Zagreb zu fliehen. Zuvor ließen sich die Eltern in Korneuburg taufen, um die Grenze passieren zu können. Der Priester trug das Datum nicht ein, und wusste, dass die Bedrohten die Taufe zurückdatieren würden.

Zum „Glück“ flohen sie weiter, nach England. Als der Krieg ausbrach, wurden die Kinder aus London evakuiert. Noch Ende 1939 wagten die Adelbergs die gefährliche Überfahrt nach Amerika. Mit der Lancastria fuhren sie im Konvoi aus der Gefahrenzone, bei der nächsten Überfahrt wurde das Schiff versenkt. Die Ankunft in New York im kalten Jänner 1940, das Wohnen unter Slum-ähnlichen Bedingungen in verwanzten Räumen, behielt Charlotte Lichtblau in furchtbarer Erinnerung. Amerika war ihr zu weit weg und zu wild. Die jüdischen Flüchtlingsorganisationen bemühten sich, die Flüchtlinge aus New York wegzulotsen. Die Adelbergs wurden zu Verwandten nach St. Louis geschickt. Die Armut bleibt vorerst Wegbegleiter. Der Vater versuchte mit geringem Erfolg, alle möglichen Waren, Bürsten, Strümpfe usw. von Tür zu Tür zu verkaufen und übernahm Hausbesorgerarbeiten, die Mutter wurde Masseuse. Trotz der katastrophalen Lebensumstände gelang dem Vater das Wichtigste: er konnte noch weitere Familienmitglieder und Freunde in letzter Minute aus der tödlichen NS-Gefahr nach Amerika hinüberretten.

Die dreieinhalb Jahre Altersunterschied zwischen den Schwestern Doris und Charlotte wirken sich in der Emigration erstaunlich aus. Doris, die Jüngere, wird voll in der amerikanischen Gesellschaft aufgehen. Sie wird einen Amerikaner heiraten, hadert mit dem Deutschen. Wie sie im Interview sagt, fühlt sie sich als amerikanische Kinderbuchautorin, die nicht an Heimweh leiden will. Obwohl sie nicht ständig daran denken mag, ihre Heimat verloren zu haben, beschrieb sie diesen Verlust in vielen ihrer Arbeiten. Ihr Kinderbuch „Der Teufel in Wien“ beschreibt in Form eines Tagebuches die ersten Monate des Jahres 1938, und sie erlaubt sich dabei den Kunstgriff, ihre eigenen Erfahrungen mit jener ihrer Schwester in einer Person zu vereinen.[3]

Charlotte hingegen blieb in einem deutschsprachigen Kreis von Österreichern. Nachdem die Familie während des Weltkrieges wieder nach New York gezogen war, traf Charlotte Lichtblau die „kleine Bambi“, ihren Klassenvorstand aus der Schwarzwaldschule. Gertrude Bamberger, so ihr wirklicher Name, machte Charlotte auf einen Klub für vertriebene österreichische Jugendlichen in New York aufmerksam, die Austro American Youth. Für viele vertriebene Jugendliche wurde der Klub ein emotionales Auffangbecken in der fremden neuen Welt, manche waren immerhin ohne Eltern gekommen. Als Heiratsbörse spielt der Klub für das Schicksal vieler seiner Mitglieder bis in die Gegenwart eine Rolle, so auch für Charlotte. Sie lernte dort ihren späteren Mann, Hans Lichtblau, kennen. Er stammt aus einer Wiener Fabrikantenfamilie, die Tabakpfeifen produziert hatte. Charlotte und John, wie sich Hans nun nennt, heiraten noch während des Krieges, sie ist noch nicht einmal 19. Bald darauf zog John in den Krieg gegen die Nazis.  Es folgte ein Jahr voller Angst.

Nach dem Sieg der Alliierten blieb John in Deutschland stationiert, er arbeitete im Rahmen des Counter Intelligence Corps (CIC) unter anderem im Bereich der Entnazifizierung. Zu seinen Fällen zählte die Wagner-Familie in Bayreuth. Charlotte Lichtblau folgte ihrem Mann nach Deutschland und schloss sich im fränkischen Hof einer Gruppe von Künstlern an, die unter den Nazis als entartet verfemt worden waren, unter ihnen Gottfried Brockmann und Werner Gilles. Natürlich war sie mit ihrem Mann schon 1947 wieder in Altaussee und brachte Fett und andere Schätze mit. „Jössas d’Lotte“, kam ihr die alte Angerin entgegen, bei der sie als Kind gewohnt hatte. Umarmung, Freude, unheimlich.

Tochter Claudia sollte 1948 nicht in Europa, sondern in den USA geboren werden, und John bekam eine Stellung bei der Regierung in Washington. Der amerikanische Antikommunismus bedrohte allerdings das junge Familienglück. Die früheren Mitglieder der Austro American Youth gelangten ins Blickfeld des Geheimdienstes, als sich herausstellte, dass zwei ehemalige Funktionäre für die Sowjets spioniert hatten. Einm  Autor, dessen Buch er kritisch rezensierte, denunzierte John Lichtblau als Mitglied einer kommunistischen Organisation, worauf John sofort vom Dienst suspendiert wurde. John Lichtblau konnte den Vorwurf später entkräften und kehrte er in die Stellung bei der Regierung zurück. 1953 begann er bei einer Erdölberatungsfirma in New York zu arbeiten. Später machte sich John selbständig und gilt mit seiner Firma, Petroleum Research Industry Foundation, als international geschätzter Experte in Erdölfragen. Auch Österreich anerkannte sein Fachwissen, und Dr. Franz Vranitzky berief ihn in ein internationales Expertenteam von Ex-Österreichern zur Beratung des österreichischen Bundeskanzlers.

Wenn im folgenden Interview das Werk von Charlotte Lichtblau im Vordergrund steht, sollten anderen Facetten ihres Wirkens nicht übersehen werden. Die Eltern wollten Charlottes künstlerische Ambitionen in ein für sie vernünftig scheinendes Fahrwasser lenken und sandten sie auf Washington Irving Highschool, wo sie etwas „Ordentliches“ lernen sollte, das Modezeichnen. Noch heute kriegt sie einen Lachkrampf, wenn sie sich an das Stipendium erinnert, in dem ihr ein eigenes Atelier auf Zeit zur Verfügung gestellt wurde. Das erste, was sie malte, war keineswegs ein Entwurf für Kleidung, sondern ein riesiger Enzian. Aussee lässt grüßen! Noch während der Ausbildung an der High School besserte sie das karge Familienbudget auf, indem sie im Akkord Krawatten bemalte. Und es machte ihr sogar Spaß, mit anderen Emigrantinnen an einem runden Tisch zu sitzen und über Kunst und Politik zu diskutieren. Später bemalte sie auch Handschuhe und erhielt Aufträge für Schaufensterdekorationen.

In den 60er und 70er Jahren spielte Charlotte Lichtblau für das New Yorker Kunstleben als Kritikerin eine gewichtige Rolle. Zuerst schrieb sie für den Philadelphia Enquirer, dann Kritiken für die The Herald Tribune und dann für das prestigereiche Kunstmagazin Arts. Sie lief von einer Vernissage zur anderen und wurde als Kritikerin hofiert. Ihre Aufsätze zu Themen wie „The Apocalypse in Art“, „Chagall and the Bible“ oder „Nineteenth Century Hang-ups Today. The Relevance of Literary Painting” überzeugen nach wie vor.

Mit den diversen Arbeiten finanzierte sich Charlotte Lichtblau Unterricht bei dem aus Wien stammenden Maler Josef Floch und bei Henry Schaefer-Simmern. Aber sie unterrichtete auch selbst, eine ihrer Schülerinnen ist die in Wien lebende Malerin Julia Logothetis. Eine andere Tätigkeit kam hinzu: Ihre Tante, Hilde Adelberg, arbeitete in New York als psychotherapeutisch orientierte Sozialarbeiterin und schickte ihr einige Klienten zur Kunsttherapie. Es ging nicht darum, aus ihnen Künstler werden zu lassen, sondern das Malen sollte ihnen helfen, eine Struktur zu finden. In den 70er Jahren illustrierte Charlotte Lichtblau im Jugendmagazin der Jesuiten, dem American Mag, jede Woche die Predigten von Father Patrick Ryan, zu dem seit Jahren eine Freundschaft bestand.

Die hofierte Kunstkritikerin Charlotte Lichtblau konnte diese Position allerdings nicht für ihre eigenen Arbeiten ausnützen, es blieb schwierig auszustellen. Sie lacht, wenn sie sagt, sie hätte Bilder gemalt, die niemand ausstellen wollte – religiöse Motive, Landschaften, sehr oft jene des Ausseerlandes, Portraits, und das noch dazu in einem expressionistischem Stil, der dem Zeitgeist nicht entsprach. Bei einer Verkausausstellung in der Van Bovenkamp Gallery konnte sie sich allerdings über geringes Interesse nicht beklagen.

Von den zahlreichen Ausstellungen war für Charlotte Lichtblau bislang jene in der noch immer im Bau befindlichen riesigen New Yorker neogotische Cathedral Church of St. John The Divine im Frühjahr 1975 am wichtigsten. Es war eine von vielen gemeinsamen Ausstellungen mit dem amerikanischen Bildhauer Sy Gresser. Dort erfüllte sich ein Traum, der Traum, an einem Ort auszustellen, der keine Galerie oder Museum war, sondern ein Ort, zu dem die Betrachter aus zutiefst persönlichen Gründen hinkommen. Die Werke wirkten, als wären sie integraler Bestandteil der Kathedrale. Vielleicht ermöglicht die Ausstellung in Altaussee eine ähnliche Erfahrung, nämlich zu erleben, dass nicht nur das Ausseerland Teil des Werkes von Charlotte Lichtblau geworden ist, sondern ihre Bilder auch Teil des Ausseerlandes.

[1] Der Theater- und Opernregisseur Hans Neuenfels, Mein Altaussee, in: Die Weltwoche Mr. 44 vom 29. Oktober 1998, S. 88.

[2] Der Chronist der Ausseer Künstlerkolonie, Alois Mayrhuber, schrieb über Paul Elbogen. Vgl. Alois Mayrhuber, Künstler im Ausseerland, Graz – Wien – Köln: Styria 19953, S. 157 – 162. Zu Trude Fleischmann vgl. beispielsweise: Jutta Dick u. Marina Sassenberg (Hg.), Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 116 – 119.

[3] Doris Orgel, Der Teufel in Wien, München: C. Bertelsmann 1990. Über Doris Orgel vgl. z.B.: Ursula Seeber (Hg.), Kleine Verbündete. Vertriebene österreichische Kinder- und Jugendliteratur, Wien: Picus 1998, bes. S. 149 – 151.

[4] Der Theater- und Opernregisseur Hans Neuenfels, Mein Altaussee, in: Die Weltwoche Mr. 44 vom 29. Oktober 1998, S. 88.

[5] Der Chronist der Ausseer Künstlerkolonie, Alois Mayrhuber, schrieb über Paul Elbogen. Vgl. Alois Mayrhuber, Künstler im Ausseerland, Graz – Wien – Köln: Styria 19953, S. 157 – 162. Zu Trude Fleischmann vgl. beispielsweise: Jutta Dick u. Marina Sassenberg (Hg.), Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 116 – 119.

[6] Doris Orgel, Der Teufel in Wien, München: C. Bertelsmann 1990. Über Doris Orgel vgl. z.B.: Ursula Seeber (Hg.), Kleine Verbündete. Vertriebene österreichische Kinder- und Jugendliteratur, Wien: Picus 1998, bes. S. 149 – 151.

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